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Wenn Stress im Körper bleibt – Die Verbindung zwischen Stresssystem und Schmerzsystem

Viele Menschen mit chronischen Schmerzen berichten, dass sie „ständig unter Strom stehen“ oder „nicht mehr richtig abschalten können“.
Das ist kein Zufall – und auch kein bloßes Gefühl. Dauerstress verändert messbar, wie unser Körper und Gehirn arbeiten.

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Das sogenannte Stresssystem (Hypothalamus – Hypophyse – Nebennierenrinde, kurz: HPA-Achse) reagiert ursprünglich auf akute Gefahr:
Ein lautes Geräusch, eine plötzliche Bedrohung, eine schwierige Prüfung.
Es schüttet Hormone aus – allen voran Adrenalin und Cortisol – die uns kurzfristig wach, aufmerksam und handlungsbereit machen.

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Wenn die Situation vorbei ist, fährt das System wieder herunter.
So war es jedenfalls gedacht.

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Vom Alarm zur Dauerbereitschaft

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Bei anhaltendem Stress – etwa durch Sorgen, Überforderung, Schlafmangel, ungelöste Konflikte oder chronische Schmerzen – bleibt der Körper im Modus der Alarmbereitschaft.
Das Gehirn „lernt“ gewissermaßen, dass Gefahr zum Alltag gehört.

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Cortisol, das normalerweise morgens hoch und abends niedrig ist, verliert dann seinen natürlichen Tagesrhythmus.


Manche Menschen zeigen dauerhaft erhöhte Werte – ein Zeichen für Überaktivierung.
Andere weisen niedrige Werte auf – der Körper hat sich „leer gelaufen“, als hätte er gelernt, dass Dauerstress der Normalzustand ist.
Beide Muster bedeuten: Das Gleichgewicht ist verloren.

Was die Cortisol-Tageskurve zeigt

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Durch die Messung von Cortisol in Speichel oder Urin zu verschiedenen Tageszeiten lässt sich erkennen, wie die HPA-Achse arbeitet.


Diese Werte sind keine bloßen Laborzahlen: Sie erzählen eine Geschichte darüber, wie gut der Körper zwischen Anspannung und Entspannung wechseln kann.

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Eine flache oder umgekehrte Cortisolkurve korreliert in Studien mit:

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  • Chronischen Schmerzen (Fibromyalgie, Rückenschmerz, Spannungskopfschmerz)

  • Erschöpfungssyndromen (Fatigue)

  • Schlafstörungen und depressiver Verstimmung

  • Geschwächter Immunabwehr

 

Das heißt nicht, dass Cortisol die Ursache ist – aber es zeigt, wie eng Schmerz und Stresssystem miteinander verflochten sind.

Das doppelte Netzwerk: Stress und Schmerz

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Neurobiologisch teilen Stress und Schmerz viele Schaltstellen:

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  • Amygdala: bewertet Gefahr und Schmerzreize

  • Hypothalamus: steuert Hormonantworten

  • Periaquäduktales Grau und Rückenmark: regeln die absteigende Schmerzhemmung

  • Präfrontaler Cortex: hilft beim „Herunterregeln“ – wenn er nicht durch Dauerstress blockiert ist

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So entsteht ein Rückkopplungskreislauf:
Stress aktiviert Schmerz, Schmerz aktiviert Stress.
Man nennt das „Stress-pain-loop“ – ein Muster, das sich jedoch umtrainieren lässt.

Wie sich das Gleichgewicht wiederherstellen lässt

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Die gute Nachricht: Das Stresssystem ist plastisch.
Es kann lernen, wieder feinfühlig zwischen Aktivierung und Ruhe zu wechseln.

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Wissenschaftlich belegt sind unter anderem:

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  • Regelmäßige Bewegung (besonders Ausdauer in moderatem Pulsbereich)

  • Atemübungen und vagale Regulation (z. B. verlängertes Ausatmen, „Resonanzatmung“)

  • Achtsamkeit, Meditation, Hypnose

  • Strukturierte Erholung und Schlafhygiene

  • Therapeutische Arbeit an belastenden Gedanken und Gefühlen

  • Pain Reprocessing Therapy

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In der Praxis kann das sichtbar werden:
Viele Patientinnen und Patienten, die später erneut eine Cortisol-Tagesprofilkontrolle machen, sehen eine deutlich harmonisiertere Kurve – ein Zeichen, dass Körper und Gehirn wieder in einen natürlichen Rhythmus zurückgefunden haben.

Fazit

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Chronischer Stress ist kein psychologisches Randthema, sondern ein zentrales physiologisches Bindeglied zwischen Gehirn, Hormonen, Immunsystem und Schmerzverarbeitung.
Die Cortisol-Tageskurve ist wie ein Spiegel: Sie zeigt, wie gut der Körper zwischen „Tun“ und „Ruhen“ balancieren kann.
Und das lässt sich verändern – Schritt für Schritt, mit Geduld, Wissen und gezielter Unterstützung.

Weiterführende Literatur

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  • McEwen BS (1998): Protective and Damaging Effects of Stress Mediators, NEJM

  • Clow A et al. (2010): The cortisol awakening response: More than a measure of HPA axis function, Neurosci Biobehav Rev

  • Moseley L & Butler DS (2017): Explain Pain Supercharged

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