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Neuroplastizität: eine lebenslange Baustelle

Stellen Sie sich Ihr Nervensystem als eine gigantische Stadt vor. Millionen leuchtender Straßen (Nervenfasern) transportieren Tag und Nacht Informationen. Die Ampeln sind Ihre Synapsen, die Verkehrsplaner sitzen im Gehirn

Bei akuten Schmerzen ist das wie ein Platten auf der Autobahn: kurz nervig, der Abschleppdienst kommt, danach fließt der Verkehr wieder. Chronischer Schmerz dagegen ähnelt einer endlosen Baustelle: Umleitungen, Staus, Hupkonzerte – irgendwann scheint die ganze Stadt nur noch aus Warnblinkern zu bestehen.

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Was heißt Neuroplastizität überhaupt?

„Neuro“ = Nervenzelle, „plastisch“ = formbar. Ihr Gehirn verändert sich ständig.

  • Synaptische Plastizität – Ampeln bekommen längere Grün- oder Rotphasen. Neurowissenschaftlich: Long Term Potentiation (LTP) verstärkt, Long Term Depression (LTD) schwächt die Signalübertragung.

  • Strukturelle Plastizität – neue Seitenstraßen (Dendriten) wachsen, Autobahnen werden verbreitert oder zurückgebaut.

  • Systemische Plastizität – ganze Stadtviertel (z. B. der somatosensorische Kortex) werden umgewidmet.

 

Häufig befahrene Routen werden kostenlos ausgebaut – gerade bei chronischen Schmerzen. Und das geschieht selbst dann noch, wenn die ursprüngliche Verletzung längst verheilt ist.

Wie wird akuter Schmerz chronisch?

  • Peripherie: Entzündungsbotenstoffe senken die Reizschwelle von Nozizeptoren. Schon ein laues Lüftchen fühlt sich wie ein Orkan an.

  • Rückenmark (dorsales Horn): Dort schalten Nerven um. Durch LTP werden die Synapsen empfindlicher, sog. zentrale Sensitivierung. Die Einfallstraße wird vierspurig, Blitzer und Tempolimits verschwinden.

  • Gehirnzentren: Im Thalamus und Kortex wird Schmerz bewertet. „Katastrophisieren“ (Gedanken wie „Das hört nie auf“) liefert politisches Kapital für noch mehr Straßenausbau. Gleichzeitig schrumpfen Areale für Bewegungskontrolle – weshalb das Knie nicht nur schmerzt, sondern auch steifer wird.

Die Gegenfahrbahn der Schmerzhemmung

Ihr Nervensystem hat ein eigenes Ordnungsamt, die absteigenden Hemmbahnen:

  • Das periaquäduktale Grau (PAG) schickt Signale talwärts, die im Rückenmark Hemm-Neurone aktivieren.

  • Botenstoffe wie Serotonin, Noradrenalin und endogene Opioide sind die Polizisten, die den Verkehr beruhigen.

 

Bewegung, Humor, Musik, Meditation, eine gute Netflix-Serie – all das schickt zusätzliche Einsatzfahrzeuge los und schaltet Sirenen der Alarmschleifen leiser.

Umbaupläne: Was fördert positive Neuroplastizität?

  • Graduierte Bewegung: Jede schmerzfreie Kniebeuge ist ein neuer Radweg, der die verstopfte Stadtautobahn entlastet.

  • Aufmerksamkeitslenkung (Achtsamkeit, Atemübungen): Ampeln schalten wieder auf Gelb statt immer auf Rot.

  • Kognitive Umstrukturierung: Wer den Baustellenbericht objektiviert („Schmerz heißt nicht Schaden“) entzieht dem Röhrenverkehr die Schlagzeilen.

  • Schlaf & Ernährung: Asphalt ohne Risse braucht gutes Ausgangsmaterial – im Gehirn sind das Proteinsynthese, BDNF & Co.

  • Soziale Interaktion: Gemeinsames Lachen löst Endorphin-Feuerwerke; die Polizei bekommt Verstärkung.

Ein bisschen Nerdwissen zum Prahlen

  • Glutamat bindet an NMDA-Rezeptoren – das ist der Zündschlüssel für LTP in Schmerzbahnen.

  • Mikroglia werden zu Aktivisten; sie schütten Zytokine aus, die weitere Sensitivierung fördern.

  • Spiegelneurone erklären, warum schon das Beobachten anderer Menschen in Bewegung Ihre eigene Schmerzkarte umzeichnen kann.

Die Pointe

Neuroplastizität ist weder Freund noch Feind. Sie ist der Baustellenchef, der jedes Gerücht über Überlastung ernst nimmt, aber genauso bereit ist, neue Parks anzulegen, sobald jemand den Bebauungsplan ändert. Jeder Schritt, jeder Gedanke, jedes Schulterzucken gibt dem Chef eine Bauanweisung.

Statt also in der Rushhour resigniert auf der Hupe zu hängen, können Sie damit beginnen, alternative Routen einzurichten. Es wird Staus geben, keine Frage. Aber eine Stadt, die Straßen umbauen kann, kann auch lernen, dass Blaulicht nicht der Dauerzustand sein muss.

Willkommen auf Ihrer inneren Baustelle – Helm auf, Sie sind der Architekt.

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