Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen Nachbarn, der ständig zu laute Musik hört. Anfangs stört es Sie vielleicht nur ein wenig, aber mit der Zeit werden Sie immer genervter und empfindlicher, bis Sie schon bei den ersten Takten an die Decke gehen. So ähnlich verhält es sich mit chronischem neuropathischen Schmerz - das Nervensystem stellt die Lautstärke permanent nach oben, selbst wenn der ursprüngliche Auslöser gar nicht mehr vorhanden ist.
Forscher sprechen hier von Neuroplastizität - die Fähigkeit unseres Nervensystems, sich anzupassen und zu verändern. Eigentlich eine tolle Sache, die es uns z.B. ermöglicht, Neues zu lernen und Fähigkeiten zu trainieren. Doch leider gilt: Was sich in eine ungünstige Richtung verändern kann, tut dies oft auch.
Bei einer Verletzung der sensorischen Nervenbahnen geraten biochemische Prozesse außer Kontrolle, die dazu führen, dass sich Schmerzreize quasi festbrennen: Die Reizschwelle sinkt, die Weiterleitung wird verstärkt und die Hemmung geschwächt. Dafür sind Veränderungen in Ionenkanälen, Neurotransmittern und Rezeptoren verantwortlich, die u.a. zu einer Übererregbarkeit von Nervenzellen im Rückenmark und Gehirn führen.
Im Rückenmark zum Beispiel fluten die Neurotransmitter Glutamat und Substanz P die schmerz-verarbeitenden Neuronen, was deren Aktivität anheizt und die Reizschwelle senkt - Zentralsensitivierung nennen das die Schmerz-Experten. Doch dabei bleibt es nicht: Auch in höheren Schaltstellen wie dem Thalamus und Cortex finden neuroplastische Prozesse statt.
Hinzu kommt, dass Immunzellen im Rückenmark und Gehirn wie Mikroglia und Astrozyten "Alarm schlagen" und Botenstoffe wie Zytokine und Prostaglandine ausschütten, die das Feuer zusätzlich anheizen. Ein wahrer Teufelskreis, der den Schmerz verselbstständigen lässt.
Stellen Sie sich vor, der Nachbar hat endlich die Musik leiser gedreht (das wären die Schmerzmittel), aber Ihr Nervensystem ist immer noch auf "Hab-Acht-Stellung". Jedes kleine Geräusch lässt Sie hochschrecken, weil Ihr Gehirn gelernt hat, Lärm als bedrohlich wahrzunehmen. Um diese ungünstige Konditionierung rückgängig zu machen, müssen Sie Ihrem Nervensystem sozusagen beibringen, dass nicht jeder Ton gleich Alarm bedeutet.
Genau hier setzen Ansätze wie die Schmerzneurowissenschaft-Auklärung an: Indem Betroffene verstehen, welche komplexen Prozesse im Gehirn ablaufen, können sie besser einordnen, was gerade passiert und der Sache etwas von ihrem Schrecken nehmen. Es ist, als würden Sie realisieren: "Ach ja, der Nachbar hat gar keine Musik an, das ist nur mein überreiztes Nervensystem!"
Aerobe Bewegung wiederum ist wie ein Aufbautraining für die Schmerzbahnen - regelmäßiges Training stärkt hemmende Einflüsse und bringt das System wieder besser in Balance. Zusätzlich werden beim Sport Botenstoffe ausgeschüttet, die wie eine Art "Nervenschutz" wirken. Das entspräche beruhigenden Gesprächen, die Sie mit Ihrem akustisch gebeutelten Nervensystem führen.
Erholsamer Schlaf ist ebenfalls enorm wichtig - wenn Sie übermüdet sind, lässt auch Ihre Toleranz für Störgeräusche nach. Guter Schlaf hingegen fördert regenerative Prozesse und hilft dem Gehirn, belastende Erfahrungen besser zu verarbeiten. Dann fühlt sich selbst der Heavy Metal von nebenan nur noch halb so schlimm an.
Chronische Entzündungen schließlich sind wie eine ständige Hintergrundbelästigung, die die Nerven zusätzlich reizt und überempfindlich macht - als würde auch noch die Kanalisation unter Ihrem Haus Lärm machen. Werden Entzündungen konsequent behandelt, nimmt auch die Schmerz-Empfindlichkeit ab.
Natürlich haben Medikamente durchaus ihre Berechtigung bei neuroplastischen Schmerzen, vor allem in Phasen starker Belastung. Aber um dauerhaft die "Lautstärke" im Nervensystem zu reduzieren, führt an einem ganzheitlichen Ansatz aus Psychoedukation, Bewegung, Schlaf und Entzündungshemmung kein Weg vorbei. So finden Sie langfristig zu einem entspannteren Miteinander mit Ihrem inneren Nachbarn!
Wenn Sie jetzt denken: "Moment mal, das klingt ja alles hochspannend mit diesen neuroplastischen Veränderungen bei Schmerzen - darüber würde ich gerne mehr erfahren!", dann haben wir genau das Richtige für Sie. Die Forschergruppe um Pere Boadas-Vaello hat sich in ihrer Übersichtsarbeit "Neuroplasticity of ascending and descending pathways after somatosensory system injury: reviewing knowledge to identify neuropathic pain therapeutic targets" genau mit diesen Prozessen beschäftigt.
Hier werden Sie mit allen wichtigen Details versorgt, von molekularen Veränderungen in aufsteigenden Schmerzbahnen bis hin zu Anpassungen in absteigenden Kontrollsystemen. Und das Beste: Die Arbeit ist so spannend geschrieben, dass Sie gar nicht merken, wie Ihnen ganz nebenbei das gesamte Schmerz-Alphabet von ASIC bis zur Zentralsensitivierung vermittelt wird.
Also schnappen Sie sich die Studie und tauchen Sie ein in die faszinierende Welt der Neuroplastizität bei Schmerzen. Und keine Sorge: Auch wenn es stellenweise etwas lauter zugeht mit all den Fachbegriffen - mit diesem Wissen im Gepäck sind Sie gewappnet, um Ihrem inneren Nachbarn gelassen und souverän zu begegnen. In diesem Sinne: Stay science, stay cool!
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