Den richtigen Weg finden
Oft gehen wir automatisch davon aus: „Wenn es weh tut, muss auch irgendwo etwas kaputt sein.“ Doch besonders bei chronischen Schmerzen ist die Sache nicht immer so einfach.
Stellen Sie sich vor, Ihr Kind (oder vielleicht Ihr Enkelkind) kommt jeden Tag weinend von der Schule nach Hause. Natürlich denken Sie sofort: „Da gibt es bestimmt irgendwelche gemeinen Mitschüler, die mein Kind ärgern!“ Sie wollen also zur Schule gehen und diese „Bösewichte“ suchen.
Dabei können mehrere Szenarien auftreten. Doch bevor wir uns diese genauer anschauen, möchte ich eins ganz deutlich machen: Die Tränen Ihres Kindes sind absolut echt! Egal, ob wir die Ursache finden oder nicht – unser Ziel bleibt immer dasselbe: Wir möchten, dass diese Tränen verschwinden.

Erstes Szenario:
Wir finden tatsächlich die bösen Mitschüler. Wunderbar! Jetzt können wir zum Direktor gehen und dafür sorgen, dass diese Kinder die Schule verlassen. Das Problem ist gelöst.
Zweites Szenario:
Wir finden zwar die Störenfriede, aber sie können nicht einfach aus der Schule entfernt werden. Immerhin wissen jetzt Lehrer und Betreuer Bescheid und können ein Auge auf die Situation haben, um weiteres Ärgern zu verhindern.
Drittes Szenario:
Wir finden die Übeltäter, aber leider können weder wir noch die Schule etwas dagegen unternehmen, um sie ganz zu stoppen. Nun müssen wir unser Kind stärken und ihm helfen, widerstandsfähiger zu werden, sodass es sich besser schützen und wehren kann.
Viertes Szenario:
Wir finden die Täter nicht, haben aber guten Grund zu vermuten, dass sie irgendwo da sind – vielleicht versteckt oder schwer zu entdecken. Wir könnten nun immer weiter danach suchen. Oder aber wir entscheiden uns, unsere Kraft nicht weiter auf die Suche zu verwenden, sondern uns darauf zu konzentrieren, unser Kind stark und widerstandsfähig zu machen, damit es mit der Situation umgehen kann.
Fünftes Szenario:
Wir finden gar keine Bösewichte. Lehrer und Schulleiter fangen an zu sagen: „Vielleicht bildet sich Ihr Kind das alles nur ein!“ Wenn ich mir vorstelle, jemand würde mir als Vater so etwas sagen, wäre ich natürlich empört. Das Vertrauen in diese Pädagogen wäre dahin. Doch halt, was ist wirklich wichtig? Wichtig ist, dass Ihr Kind leidet und weint. Vielleicht gab es früher einmal einen schlimmen Vorfall, der Ihr Kind nachhaltig erschreckt hat, sodass es jetzt überall Gefahr sieht? Vielleicht ist damals etwas passiert, als es ohnehin verletzlich war, oder vielleicht hat es Schlimmes gehört oder erlebt und leidet noch unter dem Eindruck? Vielleicht schläft es sogar schlecht und ist dadurch empfindlicher geworden? In Erwachsenensprache ausgedrückt: Vielleicht liegt hier ein „Interpretationsproblem“ vor – die Wahrnehmung von Gefahr ist verstärkt und überempfindlich geworden. Aber Vorsicht: Ein „Interpretationsproblem“ ist ganz etwas anderes als „sich etwas nur einzubilden“. Die Angst und die Tränen Ihres Kindes sind sehr, sehr real!
Was bedeutet dieses Bild nun für Ihre Schmerzen?
Genauso wie im beschriebenen Beispiel verhält es sich mit chronischen Schmerzen. Manchmal finden Ärzte deutliche körperliche Ursachen („die bösen Mitschüler“), manchmal finden sie Ursachen, die nicht ganz beseitigt, aber kontrolliert werden können, manchmal findet man nichts Greifbares mehr, obwohl der Schmerz nachweislich da ist. Und manchmal ist die Ursache längst vergangen, aber das Gehirn und die Nerven reagieren immer noch empfindlich, als wäre die Gefahr noch aktuell vorhanden.
Wichtig ist: Ihre Schmerzen sind in jedem dieser Fälle absolut real! Sie bilden sich nichts ein! Es lohnt sich jedoch, offen dafür zu sein, dass Schmerzen nicht immer von sichtbaren Schäden oder Verletzungen herrühren müssen. Oftmals liegt der Schlüssel zur Besserung darin, den Schmerz besser zu verstehen – und gemeinsam sinnvolle Wege zu finden, wie Sie ihn überwinden können.